
Wenn ich in der Taktung der Jahrzehnte meine 10 Spiele beschreibe, landen wir in der Zukunft der 40er Jahre, was auch ganz interessant sein könnte, wenn auf der Spiel 3000 Spiele veröffentlicht werden und 300.000 Besucher alle Messehallen füllen, aber Utopien wollte ich hier nicht entwerfen. Ich muss daher den Rhythmus ändern, was sich auch anbietet, da die nächsten Jahrzehnte viele besondere Spielerlebnisse brachten, gab es doch seit 1979 mit HASE UND IGEL das sich jährlich wiederholende „Spiel des Jahres“, das wir meist mit der Veröffentlichung der Jury kauften.
1977 hatte uns mein Referendariat nach Göttingen geführt. Der erste Umzug, bei dem Spiele schon eine kleine logistische Rolle spielten, aber alles bewegte sich noch in einem Rahmen, in dem ich noch nicht für verrückt gehalten wurde. Im Februar 1979 trat ich dann meine erste Stelle an einem Göttinger Gymnasium an, knapp eine Woche vorher kam unser zweiter Sohn zur Welt. Das ist der, der jetzt alle Spiele besitzt und im Augenblick ein neues Haus plant, das für die Sammlung entsprechend ausgelegt sein soll.
Ein Schuleintritt zum Halbjahr bringt meist Vorteile. Die Unterrichtsplanung steht weitgehend, Klassenleitungen sind bestimmt, Lücken darf man fachlich füllen. Oft bleiben Stunden übrig: So stieß ich mit dem Vorschlag, dass ich doch eine der Stunden mit dem attraktiven Angebot einer Spiele-AG füllen könnte zum Glück auf Zustimmung bei meinem damaligen Schulleiter. Daraus entwickelte sich bis 1998 fast ein Gewohnheitsrecht, das ich die ersten Jahre sporadisch, dann aber ab 1985 Jahr für Jahr in Anspruch nahm. Und danach durfte ich als Schulleiter selbst entscheiden, eine AG anzubieten, dann aber wegen der wenigen Stunden, die ich überhaupt noch unterrichten musste, ohne Anrechnung.
Göttingen war vom spielerischen Umfeld her ein Traum. Neben meinen Schülern in der AG gab es viele spielinteressierte Kollegen, mit denen wir uns regelmäßig trafen. Einen ordentlichen Spieleladen gab es noch nicht, der kam erst mit Arne Soltendieck Mitte der 90er Jahre in die Burgstraße nach Göttingen. Damals fuhren wir immer noch regelmäßig zum Schwarzen Bären nach Hannover, um an gute Spiele zu kommen.

Und dann gab es noch die Edition Perlhuhn in Göttingen und Karin und Reinhold Wittig, die regelmäßig am Freitag ab 17.00 Uhr in den Goldgraben einluden. Die Bedeutung der Menschen hinter den Spielen, nicht den Spieleerfindern, sondern den Spieleautoren, wie Reinhold immer betonte, ist mir erst durch die Begegnung mit ihm Anfang der 80er Jahre deutlich geworden. Am 8. und 9. Januar 1983 lud er erstmalig Autoren und Journalisten, aber auch das Göttinger Publikum ins Künstlerhaus ein. Keiner ahnte damals, dass daraus das weltweit größte Autorentreffen entstehen würde, dass seitdem Jahr für Jahr im Juni oder Juli in Göttingen stattfindet. Keiner ahnte, dass die Forderung der Teilnehmer, gleichberechtigt mit Buchautoren auf der Schachtel genannt zu werden, bald zur Regel wurde. Keiner ahnte, dass schon acht Jahre später die Spiele-Autoren-Zunft als Rechte- und Interessenvertretung der Spieleautoren in Göttingen geründet wurde. Und wir ahnten nicht, dass nach den Loseblattsammlungen der ersten sechs Jahre 1989 mit der von meiner Frau herausgegebenen Zeitschrift Spiel&Autor eine regelmäßige Dokumentation des Autorentreffens von uns übernommen wurde.
Ab sofort führten Begegnungen mit Spielen nicht nur zum Miteinander mit anderen am Spieltisch, sondern waren oft verbunden mit dem Kennenlernen der Menschen, die sich diese Spiele ausdachten. Das prägte später von Anfang an auch mein journalistisches Bemühen um die Autorinnen und Autoren, über die ich viele Porträts veröffentlichen durfte. Ganz aktuell gehört Hilko Drude dazu (vgl. spielbox Heft 5/2018), den ähnlich wie mich damals das Göttinger Umfeld und Reinhold Wittig beeinflusst haben. Hilko ist nicht nur Spieleautor, er beobachtet und dokumentiert Spiele aus aller Welt. Asiatische und südamerikanische Spiele interessieren ihn besonders. Sein lidude.net ist eine wahre Fundgrube. Was kann daher spannender sein, als ihm mit 10 Spielen in 10 Tagen zu folgen. Ich nominiere heute daher Hilko Drude.
Reinhold Wittigs Spieleerstling WIKINGERSCHACH steht spielerisch für meine Anfangsjahre in Göttingen. Es zeigt sinnbildhaft die neue Materialität, die die Edition Perlhuhn mit Spielen prägte. Resebeck, ein Schrotthändler in Göttingen, war eine seine beliebtesten Anlaufstellen, dort holte er sich Anregungen aus Restmaterialien. Seine geologischen Ausflüge nach Namibia brachten die mythischen Welten von Ombagassa aufs Spielbrett. So entstanden die WÜRFELPYRAMIDE, WABANTI und OMBAGI. WIKINGERSCHACH hat Wittig schon 1959 als 22jähriger Autor entwickelt, zeitgleich übrigens mit PIRATENBILLARD, das es bis in eine Spielshow des Fernsehens brachte. WIKINGERSCHACH, ein dreidimensionales Taktikspiel, steht in der klassischen Tradition des alten HNEFATAFL, das auf die kriegerische Auseinandersetzung zweier Wikinger-Flotten zurückgeht. Wittig verdichtet es auf einem Kampf auf einem großen Schiffsblock aus massivem Holz und verknüpft damit das, was ihm immer wichtig war, Kultur und Spiel.