Dienstag, 19. Mai 2015
ARLER ERDE
Spieler sind verrückte Menschen. Sie bewegen sich in allen Zeitaltern von der Frühgeschichte der Menschheit bis in die ferne Zukunft zum Angriff der Zylonen auf Galactica. Sie bewegen sich in mexikanischen Tempeln, auf der chinesischen Mauer, spielen Jule Vernes „Reise um die Welt in 80 Tagen“ nach oder Serien wie „Walking Dead“. Dass sie sich auch in das kleine ostfriesische Örtchen Arle verirren könnten, um mit Begeisterung das mühselige Leben an der Nordseeküste zu Beginn des 19. Jahrhunderts nachzuempfinden, hätte vor AGRICOLA wahrscheinlich niemand geahnt. Am wenigsten die Arler selbst, deren Kirchturm in Spielerkreisen nun genauso bekannt ist wie die Doppeltürme von NOTRE DAME. Als 1163 der Baubeginn der Kathedrale des Erzbistums Paris startete, war die kleine Kirche in Arle urkundlich schon 1106 erstmals erwähnt worden.
Uwe Rosenberg hat der Region, in der er aufwuchs, mit dem Spiel ARLER ERDE ein gewichtiges Denkmal gesetzt. Wenn die Jury „Spiel des Jahres“ noch Sonderpreise wie „Geschichte im Spiel“ verleihen würde, hätte diese Idee durchaus einen Sonderpreis „Regionalgeschichte im Spiel“ verdient. Dem Gesamtprodukt merkt man an, dass es ein Herzblutspiel Rosenbergs ist: Detailverliebt, gespickt mit regionalen Anspielungen und ergänzt durch ein 36seitiges Kompendium, in dem der Autor allen Spielern seine Heimat nahebringt. Es reicht vom Grünkohlessen über die „Bohntjesopp“ und Teezeremonie zur Deichwirtschaft und Moorkolonisation.
Das sind die Spannungsbögen die ARLER ERDE auch im Solo- oder Zweipersonenspiel kennzeichnen. Damit die Spieler im Halbjahrestakt über knapp fünf Jahre hinweg ihre Höfe erfolgreich bewirtschaften, brauchen sie für Gebäude, Ackerflächen, Schaf- und Rinderzucht mehr Land. Das müssen sie dem Meer durch Deichbau abringen und dem Moor durch Trockenlegung.
Rosenberg hat sich dazu 30 verschiedene Aktionsbereiche ausgedacht, die die Spieler hälftig im Winter- und im Sommerhalbjahr nutzen. Vier Familienmitglieder stehen dafür zur Verfügung. 36 Aktivitäten sind das damit über die gesamte 120minütige Spielzeit, die natürlich nach Punkten abgerechnet wird. Wer anfangs von der Vielfalt erschlagen ist, stellt schnell fest, dass ARLER ERDE einfach ausprobiert werden muss. Es gibt eigentlich keine schlechten Aktionen. Für den Winter müssen die Spieler beachten, dass Heizmaterial und Nahrung im Hause ist. Schnell wird auch klar, dass Reisen lohnt, Fuhrwerke in die Umgebung fahren sollten.
Als Oldenburger bin ich allerdings empört, dass Rosenbergs Karren zwar von Arle bis Bremen unterwegs sind, aber das Großherzogtum an der Hunte nicht bereist wird. Trotz der Ungehaltenheit, ARLER ERDE spiele ich zu jeder Zeit wieder. Die Vielschichtigkeit fasziniert, Rosenberg hat wieder einmal ein perfektes Spiel erfunden!
Wertung: Jederzeit wieder
Titel: ARLER ERDE
Verlag: Feuerland
Autor: Uwe Rosenberg
Spieleranzahl: 1-2
Alter: ab 14 Jahren
Dauer: ca. 90 Minuten
Preis: ca. 50 Euro
PATCHWORK
Uwe Rosenberg, 45jähriger Autor aus Ostfriesland, ist für seine hochkomplexe AGRICOLA-Welt vielfach ausgezeichnet worden, dabei hat er auch ein gutes Händchen für einfache Ideen. Seine Bandbreite zeigen die beiden Empfehlungen der Jury „Spiel des Jahres“ 2015. Da ist sein ostfriesisches Epos ARLER ERDE, aber auch das pfiffige Legespiel PATCHWORK.
Man stelle sich Rosenbergs Großmutter vor, die nach dem Zweiten Weltkrieg regelmäßig nach Wilhelmshaven fuhr, um Stoffe für ihre Kundschaft einzukaufen. Verwertet wurde alles, sogar der kleinste Rest ließ sich noch verarbeiten. Diesem Recyceln von Stoffresten setzt Rosenberg mit PATCHWORK ein spielerisches Denkmal.
Dazu nutzen zwei Spieler 33 unterschiedliche Stoffreste, die aus zwei bis acht zusammenhängenden Quadraten bestehen. Mit denen und fünf Bonusteilen können sie maximal 81 Felder auf der quadratischen Patchworkdecke belegen. Ein Stoff-Puzzle mit Pappteilen, Knopfgeld und viel Zeit, die für Handarbeit nun einmal nötig ist. 53 Zeiteinheiten stehen auf einer spiraligen Zeitleiste zur Verfügung, in Spielzeit umgerechnet sind das etwa 30 Sekunden pro Einheit. Umrahmt ist die Zeituhr von den 33 Stoffteilen, die ein Einkäufer, den beide Spieler bewegen, gegen Zahlung von Knöpfen und Zeit erwerben kann. Jeweils drei Teile sind erreichbar, die aus der Porto-, pardon Knopfkasse bezahlt werden, die anfangs mit nur fünf Knöpfen bestückt ist. Gleichzeitig kostet das Einnähen Zeit, sodass der eigene Zeitstein voran wandert. Wer hinten liegt, darf sich immer weiter bedienen, auch mehrmals hintereinander. Spieler, die auf der Zeitleiste ein Knopffeld überspringen, bekommen für jeden schon verarbeiteten Flicken mit Knöpfen Nachschub für die Kasse. Außerdem gelten die Knöpfe als Siegpunkte. Fünf kleine Flickenfelder erhalten als Belohnung nur die Führenden. Das gilt auch für ein nicht unwichtiges Zwischenziel: Wer als erster ein Quadrat mit 49 Feldern schließen kann, erhält sieben Knopfpunkte für die Endwertung. Spieler, denen die Zeit ausgegangen ist, rechnen Knopfeinnahmen gegen nicht belegte Felder gegeneinander auf.
PATCHWORK ist nicht einfach ein belangloses 08/15 Legespiel. Die pfiffige Mischung aus Zeit- und Knopffaktoren, die die alternierende Reihenfolge aufhebt, sorgt für ein spannendes Flicken-Duell. Auch das Endergebnis ist ansehnlich, es genügt auch hohen ästhetischen Ansprüchen. Klemens Franz, der Grafiker, hat gut Arbeit abgeliefert. Die Jury konnte an diesem Kunstwerk aus Ostfriesland nicht vorbeigehen und hat es zu Recht auf die Empfehlungsliste der besten Spiele des Jahres 2015 gesetzt.
Wertung: Jederzeit wieder
Titel: PATCHWORK
Verlag: Lookout Spiele
Autor: Uwe Rosenberg
Spieleranzahl: 2
Alter: ab 8 Jahren
Dauer: ca. 30 Minuten
Preis: ca. 20 Euro
Sonntag, 10. Mai 2015
AUF DEN SPUREN VON MARCO POLO
Daniele Tascini und Simone Luciani haben ein fantastisches Gespür für die Umsetzung historischer Themen. TZOLK‘IN, das Spiel um den Maya-Kalender, war schon grandios. Jetzt setzen sie sich auf die SPUREN VON MARCO POLO und erneut erliegen die Spielefreaks der Faszination ihres historischen Entwurfs.
Hans im Glück hat diesmal das Glück gehabt, ein Spiel des italienischen Erfolgsduos veröffentlichen zu dürfen. Redaktionell gibt es zwar kleinere Fehler, aber an der Vielfalt des Gesamtentwurfs ist überhaupt nichts zu kritisieren. MARCO POLO will immer wieder ausprobiert werden, da keine Spielerfahrung der anderen entspricht.
Thematisch geht es um Marco Polos Reise in das Reich der Mitte. Spielerisch geht es, wie so oft, um Siegpunkte, die Spieler sogar, ohne die Reise ansatzweise durchzuführen, gewinnen können. Punkte gibt es für das Erfüllen von Handelsaufträgen und für die meisten Aufträge, die schafft man auch ohne zu reisen. Die Reise von Venedig nach Beijing wird ebenfalls belohnt, wobei die frühe Ankunft besonders viele Punkte bringt. Nur wer Beijing erreicht hat, darf am Ende Waren in Siegpunkte tauschen. Jede Handelsstation, die auf dieser Reise errichtet wird, bringt Vorteile, zum Teil auch Siegpunkte, vor allem wenn man acht oder neun Stationen errichten konnte. Wer durch sein Reisen zu bestimmten durch zwei Zielkarten vorgegebenen Städten gelangt, verbucht zusätzlich Punkte. Schließlich bringt am Ende Geld im Verhältnis 10:1 Wertungspunkte ein.
Gesteuert wird das alles durch Würfeleinsatz. Jeder besitzt dafür fünf eigene Farbwürfel, die die Spieler mit schwarzen oder einen weißen Würfel ergänzen können. Zu Beginn jeder der nur fünf Runden würfeln die Reisenden alle Würfel und steuern ihre Handlungen, indem sie sie auf Aktionsfelder setzen. So kommt man durch Platzieren von ein bis drei Würfeln an Geld, Rohstoffe, Kamele, an Aufträge und schließlich kann man auch Reisen durchführen. Manche Aktionsfelder dürfen nur einmal besetzt werden, die meisten mehrmals, wobei nachfolgende Spieler, den Wert ihres dort eingesetzten kleinsten Würfels bezahlen müssen. Am teuersten ist das Reisen. Zwei Würfel müssen dafür investiert werden, wobei die kleinste Würfelzahl die maximale Bewegungsweite vorgibt. Wer drei Stationen Richtung Beijing laufen möchte, muss erst einmal 12 Geld zahlen, hinzukommen drei Taler, wenn man nicht der erste Reisende ist. Auf vielen Strecken fallen weitere Ausgaben an. Seereisen kosten meist zusätzlich, vor allem die Südroute über Kochi geht richtig ans Portemonnaie. Auch auf den Landstrecken benötigen die Spieler oft weitere Kamele. Wer beispielsweise am Anfang mit drei Schritten von Venezia über Moscow nach Anxi reisen möchte, muss drei Kamele im Stall haben. Wohin man reisen möchte, hängt von den eigenen Zielkarten ab, aber auch von den lukrativen Angeboten, die manche Stationen bieten. Da gibt es einen Bonus für den, der zuerst in eine große Stadt kommt, in kleineren Städten fallen Belohnungen in jeder Runde an. In Anxi hätte zum Beispiel eine Gratifikation mit Siegpunkten ausliegen können. Die großen Städte verfügen zusätzlich über Stadtkarten, die durch Würfeleinsatz von denjenigen aktiviert werden können, die ein Kontor in dieser Stadt haben. Für Geld- und Siegpunkterwerb sind das nützliche Felder, wobei von 31 Stadtkarten in jedem Spiel nur neun zum Einsatz kommen.
Wer jetzt meint, dass man da doch total dem Würfelglück ausgesetzt sei, hat nur bedingt recht. Mit Hilfe von Kamelen lassen sich Würfel neu werfen, rauf oder runter drehen, für drei Kamele gibt es sogar einen schwarzen Würfel zusätzlich. Dann gibt es noch Raschid ad-Din Sinan, eine Charakterkarte, die alle Würfelgesetze aufhebt und die Würfel so dreht, wie der Spieler es möchte. Damit sind wir bei einer wichtigen Zusatzkomponente des Spiels, die es bewusst nicht mehr ausbalanciert, sondern ungleiche Startbedingungen durch ganz unterschiedliche Fähigkeiten schafft. Jeder will sich hier anfangs Raschid schnappen und stellt dann bald fest, dass es gar nicht einfach ist, mit diesem idealen Würfler zu gewinnen. Die anderen Charaktere haben auch ihre Reize. Da ist Matteo Polo, der Onkel Marco Polos, der einen zusätzlichen weißen Würfel zur Verfügung hat und ständig neue Aufträge bekommt. Mercator ex Tabriz ist ein erfolgreicher Schnorrer, wenn ein Mitspieler Waren oder Kamele auf dem Markt bekommt, erhält er ebenfalls eine Ware oder ein Kamel. Johannes Caprini ist seiner Zeit voraus, er ist der ideale Erfüller sämtlicher Zielaufträge und stets der erste in Beijing, wenn nicht Kubilai Khan mit spielt. Er beamt sich von Oase zu Oase und tanzt von einer lukrativen Stadt zur anderen. Kubilai Khan kassiert von vornherein zehn Siegpunkte, denn er startet nicht von Venedig, sondern von Beijing aus. Berke Khan muss nicht zahlen, wenn er ein besetztes Aktionsfeld nutzen möchte. Wilhelm von Rubruk besitzt gleich 11 Handelsposten, für die er zehn Siegpunkte zusätzlich erhält, wenn er sie alle platzieren kann. Das Gute bei ihm, er lässt en passant die Hütten stehen, wenn er sich auf Durchreise befindet. Schließlich taucht natürlich auch der Namensgeber des Spiels auf, er bringt seinen Vater mit und darf mit beiden Figuren übers Spielfeld wandern.
Das alles auszuprobieren, macht richtig viel Spaß. Selten war der Wiederspielreiz bei einem Spiel so hoch wie bei MARCO POLO. Die Varianz bringen nicht nur die Charaktere, sondern die unterschiedlichen Reiserouten und verschiedenen Ausgangslagen durch die Städtekarten und Boni, die stets neue Strategien erfordern. Das Erfüllen von Handelsaufträgen, auf das bisher nur kurz eingegangen wurde, ist für die Gesamtbilanz auch nicht zu unterschätzen. Viele Handelsaufträge bringen bis zu neun Siegpunkten und teilweise sogar zusätzliche Bewegungen für das Reisen. Die Mischung macht’s und diese ist immer wieder unterschiedlich. Oft will man bei MARCO POLO der erste sein, vor allem auf den Reiserouten. Andererseits wird nur der Startspieler, der als letzter in einer Runde gereist ist. Das erfordert geschicktes Taktieren. Da jeder Aktionsbereich im Prinzip immer nur einmal pro Runde von einem Spieler genutzt werden kann, sind dabei diejenigen gut dran, die über Zusatzwürfel verfügen. Mit zwei schwarzen Würfeln darf die Reise fortgeführt werden. Matteo Polo hat mit seinem zusätzlichen weißen Würfel gute Karten. Die Varianz führt allerdings auch zu Situationen, die langweilige Schleifen in den Aktionen zur Folge haben können. So habe ich eine Runde erlebt, in der der Raschid-Spieler in Moscow ständig 24 Punkte kassieren konnte. Er musste nur sechs Gold und sechs Kamele abgeben, sodass er stereotyp seine Würfel in den Gold- und Kamelebereich setzte. Da mussten alle zusammenstehen und den Druck auf ihn erhöhen, damit er nicht uneinholbar davon eilte.
Man braucht Spielerfahrung, um die Möglichkeiten der Charaktere voll auszureizen. Ich hätte mir gewünscht, dass es in Einführungsrunden neutrale Charaktere gegeben hätte, sodass sich unerfahrene Spieler erst allmählich an die Unausgewogenheiten machen können. Denn Zwänge gibt es genug. Einmal hat man zu wenig Geld für die Reiseschritte, das andere Mal fehlen die Kamele, dann wieder eine bestimmte Ware, um einen Auftrag zu erfüllen. Ständig herrscht Mangel, vor allem wenn man die Reiseziele im Blick behalten will und merkt, dass fünf Runden schnell vorbei sind. Obwohl das Spiel zu viert gut anderthalb Stunden dauert, vergeht die Zeit wie im Fluge.
AUF DEN SPUREN VON MARCO POLO fasziniert bisher jeden, der mit ihm in Berührung kam. Kritik gibt es wenig. Die redaktionellen Mängel sind marginal, bis auf die falsche Schreibweise von Beijing und die fehlende Zahl 48 auf der Zählleiste und Ungenauigkeiten bei der Angabe der vorhandenen Kamele und Pfeffersäcke, stört mich eigentlich nur, dass Hans im Glück bei der Größe der Waren etwas mehr Geld in die Hand hätte nehmen sollen. Einer- und Dreierwaren lassen sich nämlich fast gar nicht unterscheiden, das führt ständig zu falschen Abrechnungen. Das nehmen wir aber in Kauf, denn das Gesamtprodukt ist mehr als stimmig. Der Sieg beim Deutschen Spielepreis dürfte daher wieder einmal nach München gehen.
Wertung: Jederzeit wieder
Titel: Auf den Spuren von Marco Polo
Verlag: Hans im Glück
Autoren: Daniele Tascini und Simone Luciani
Spieleranzahl: 2-4
Alter: ab 12 Jahren
Dauer: ca. 20-25 Minuten pro Spieler
Preis: ca. 40 Euro
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