Freitag, 22. Oktober 2021
SEENOT IM RETTUNGSBOOT
Es war einmal
Rückblick auf Rezensionen zwischen 1990 und 2010
Endlich wieder möglich: Basisdemokratie im Spiel
13 Jahre nach dem ersten Untergang der Santa Timea geistert sie wieder über die Weltmeere, optisch aufgepeppt mit deutlich größeren Rettungsbooten ausgestattet, aber ohne die alte Abstimmungstafel. Ronald Wetterings 1993 von Walter Müller herausgegebenes Verhandlungsspiel RETTE SICH WER KANN steht als SEENOT IM RETTUNGSBOOT, diesmal von Roman Mathar im Argentum Verlag herausgegeben, wieder zur Verfügung. Wetterings Spiel und das geniale INTRIGE von Stefan Dorra haben damals eine heiße Diskussion um die „gemeinen Spiele“ ausgelöst, die sogar zu einer Podiumsdiskussion auf der Spiel in Essen führte. Darf es Spiele geben, die das Gegeneinander real im kommunikativen Schlagabtausch am Spieltisch austragen? Darf es Spiele geben, die ohne Würfel- und Kartensteuerung, sondern basisdemokratisch, Aug in Aug zum Scheitern und Ausscheiden von Spielern führen? Darf es Spiele geben, in denen Sympathie und Antipathie konkrete Spielauswirkung haben?
Die Jury „Spiel des Jahres“ ignorierte 1994 bewusst diesen Trend und ging dabei an den oben genannten Spielen und dem knallharten CAPONE (Amigo) vorbei. Ein seichter Kompromisskandidat war da noch das inzwischen lang vergessene KOHLE, KIES UND KNETE von Sid Sackson. Was die Spielefreaks mochten und, ich bin sicher, immer noch mögen, spiegelte der Deutsche Spielepreis 1994 deutlich besser wider. Nicht nur das dort an Platz 1 mit 6 NIMMT! das mit Abstand beste Spiel dieses Jahrgangs gekürt wurde, auch die gemeinen Spiele kamen mit dem zweiten (CAPONE), vierten (INTRIGE) und fünften Platz (RETTE SICH WER KANN) zu ihrem Recht. Auf den dritten Platz kam im übrigen das damalige „Spiel des Jahres“ MANHATTAN.
Lassen wir also die Santa Timea genüsslich wieder sinken und unsere Matrosen Platz in den Rettungsbooten suchen. Jeder der drei bis sechs Spieler lässt ein Rettungsboot zu Wasser, wobei die Santa Timea sogar so gut ausgestattet ist, dass ein zusätzliches Rettungsboot zur Verfügung steht. Das brauchen wir auch, denn unsere zwei Steuermänner und vier Matrosen finden zwar anfangs noch genügend Platz in den großen sechssitzigen Holzbooten, aber im Laufe des Spiels wird es eng in den Booten.
In jeder Spielrunde bekommt ein Boot ein Leck, es geht damit zwar noch nicht unter, aber ein Sitzplatz wird durch einen blauen Lochstein belegt und steht nicht mehr zur Verfügung. Die Entscheidung über das Leck erfolgt basisdemokratisch, nach ausführlicher Diskussion, mit Hilfe von Abstimmungskarten. Je nach Interessenlage und aktueller Bootsbesatzung gibt es immer wieder neue Konstellationen, wechselnde Partnerschaften, langfristige Versprechungen, die leider nicht eingehalten werden müssen. Das Boot mit den meisten Stimmen erhält das Leck, bei Gleichstand entscheidet der Startspieler. Dreimal im Laufe des Spiels kann jeder Spieler versuchen mit Hilfe einer Kapitänskarte, die Entscheidung in seine Richtung zu lenken. Das Problem ist allerdings, dass diese Karte nur wirksam wird, wenn nicht ein anderer Mitspieler auf die gleiche Idee kommt, dann neutralisieren sich die Karten.
Sollte noch Platz im Boot sein, ist ein Leck unproblematisch. Reicht der Platz aber nicht mehr aus, stimmt die Bootsbesatzung darüber ab, wer von Bord muss. Dabei zählen die Steuerleute doppelt. Auch bei dieser Abstimmung darf die Kapitänskarte eingesetzt werden. Sobald die Löcher in einem Boot die Anzahl der Seeleute übertreffen, helfen auch keine Abstimmungen mehr, da geht das Boot mit Mann und Maus unter.
Einerseits müssen die Matrosen in ihren leckenden Booten kräftig Wasser schippen, andererseits haben sie in gar nicht allzu weiter Entfernung drei rettende Inseln vor Augen. In jeder Spielrunde kommt ein Boot nach erfolgter Abstimmung diesen Inseln einen Wellenberg näher. Landen die Seeleute schließlich auf einem Eiland, bringen sie für die Schlusswertung Punkte, wobei die beiden äußeren Inseln lukrativer sind als die mittlere. Sobald ein Boot vorangekommen ist, haben die Spieler noch die Möglichkeit, die Boote zu wechseln. Beginnend mit dem Startspieler darf jeder eine Figur aus einem Boot nehmen und umsteigen lassen. Das Problem dabei ist, dass das Einsteigen in die Boote in der umgekehrten Reihenfolge durchgeführt wird. Da bleibt der Startspieler häufig auf der Strecke, denn er darf nicht in das Boot zurück, aus dem er ausgestiegen ist. Es ist nicht schwer für die Mitspieler, wenn nicht taktische Überlegungen oder eingehaltene Absprachen dagegen sprechen, ihre Wechsel innerhalb ihrer Boote so vorzunehmen, dass die Startspielerfigur aus dem Spiel genommen werden muss. Durch das Wechseln können Boote auch untergehen, aber immer erst, wenn die Umstiegsphase abgeschlossen ist. Sobald diese drei Spielphasen vorbei sind, wechselt der Startspieler und ein neues Boot bekommt ein Leck. Wenn alle Boote entweder gesunken oder sicher gelandet sind, endet das Spiel. Wer die meisten Punkte bei der Rettung seiner Steuerleute und Matrosen erreichen konnte, gewinnt nach meist 90 aufreibenden Minuten eine Partie SEENOT IM RETTUNGSBOOT.
Wetterings Spiel hat nichts von seinem Verhandlungsflair verloren. Damals wie heute gilt aber auch, dass man zu dritt das Spiel vergessen kann. Seinen eigentlichen Reiz entfaltet SEENOT IM RETTUNGSBOOT in großen Spielrunden, die Spaß am Verhandeln haben. Wenn heute immer wieder Interaktion im Spiel gefordert wird, die wir meist nie eingelöst vorfinden, in Wetterings Spiel haben wir sie pur. Alle sind ständig beteiligt, einbezogen, über und unter dem Tisch. Jeder ist sich selbst der nächste, aber ständig auf die anderen angewiesen. Klar, man muss solche Spiele mögen und nicht alle tun dies. Für mich gilt aber das alte Lied von Hans Albers „Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise“, auf die Reise mit der Santa Timea.
Argentum sei Dank, dass Wetterings Idee gerettet wurde. Es ist zu hoffen, dass das Spiel nicht so schnell wieder untergeht, wie das damals im Walter Müller Verlag geschah.
INTRIGE lebt auch weiter, seit 2003 in einer Kartenspielvariante von Amigo. CAPONE ist leider nicht mehr auf dem Markt, kommt in meinen Spielkreisen aber immer wieder auf den Tisch, vielleicht sieht hier auch bald ein Verlag in diesem Spiel „ein Angebot, das man nicht ablehnen darf!“
Titel: SEENOT IM RETTUNGSBOOT
Verlag: Argentum Verlag
Autor: Ronald Wettering
Grafik: Matthias Catrein
Spieleranzahl: 3-6
Alter: ab 12 Jahre
Dauer: ca. 90 Min.
Preis: ca. 35 Euro
Spiel 19/2007 R185/2021
Die Rezension erschien 2007 unter
www.spiel-und-autor.de
Wertung Spielreiz damals 8 von 10 Sternen,
das entspricht: Gerne morgen wieder
Zum Spiel und zum Autor:
RETTE SICH WER KANN ist das erste und erfolgreichste Spiel des 62jährigen Sozialpädagogen Ronald Wettering. Danach erschienen noch neben der Neuauflage LOCH NESS (Hans im Glück 2010) und BITE NIGHT (Zoch 2014).
Wettering lebt auf Korsika und bietet dort Ferienwohnungen und Bergtouren durch die felsigen Küstenregionen der Westküste an. (http://www.villa-liamone.com/maewand.htm)
Auf BGG wird sein Spiel mit einer Wertung von 6,6 auf Rang 480 bei den Familienspielen geführt (Stand 04.10.21). Inzwischen ist auch der Argentum Verlag untergegangen und das Spiel gibt es nur noch antiquarisch.
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