
50 Prozent der Kenner-Spiele 2017 spielen sich kooperativ. So dominant hat sich das Miteinander-Spielen noch nie durchsetzen können. Was vor fast 35 Jahren der Herder Verlag durch das BÄRENSPIEL einleitete, ist schon lange aus der Nische der Kinderspiele in den Familien- und Erwachsensektor vorgedrungen.
Vor Jahren noch unvorstellbar, aber nun können wir uns sogar den Schrecken von Kriegen kooperativ nähern, „Im Westen nichts Neues“ atmosphärisch dicht verpackt in einer kleinen quadratischen Schachtel. Unter die Haut gehend, mit persönlicher Betroffenheit verbunden, wenn die Spieler zu Akteuren im Schützengraben an der französisch-deutschen Frontlinie im Ersten Weltkrieg werden.
Darf man das so individualisiert zum Thema eines Spiels machen? Fabien Riffaud und Juan Rodriguez sind sich dieser Gratwanderung bewusst. Daher erläutern sie ausführlich ihre Absichten. Für sie ist ein „Spiel eine Ausdrucksform der Kultur“. Es gebe daher kein Thema, das man nicht behandeln könne. Allerdings gebe es heikle Themen, zu denen „gehören die Erlebnisse von Frontsoldaten“, die sie aus der Sicht der täglichen Sorgen und Ängste dieser Menschen betrachten wollen. Zu ihrem Überlebenswillen trugen ihr Zusammenhalt, ihre Brüderlichkeit bei.
Nachvollziehbar vor allem im häufigen Scheitern wird dies für zwei bis fünf Spieler. Wer überhaupt eine Chance beim Überleben der Gruppe haben will, sollte mit vier oder mehr Partnern antreten. Da zieht Gustave Bidau wie ein kleiner Obelix an die Front, Anselme Perrin ist in Gedanken immer bei seiner geliebten Juliette, Charles Saulière hat schon unendlich viele Schützengräben ausgehoben wie Felix Moreau, den die ganze Last des Krieges schon arg gebeugt hat. Sie stehen vor vielen Bewährungsproben, 25 solche Bedrohungskarten liegen auf einer Friedenstaube, 36 weitere auf einem Kriegerdenkmal, auf dem die Namen der vier Freunde schon eingraviert sind. Im Spielverlauf müssen sie es schaffen, den Kartenstapel bis zur Friedenstaube aufzudecken, erscheint das Denkmal, ist alles vorbei.
Die Karten zeigen in unterschiedlicher Häufigkeit Bedrohungen, das kann die Nacht sein, Schnee und Regen machen ihnen auch zu schaffen. Das sind aber auch die direkten Kriegseinwirkungen wie Granaten- und Giftangriffe. Im Kopf haben sie immer den schrillenden Ton der Trillerpfeife, der sie zum Sturmangriff ruft. Meist besonders belastend sind die Karten „Schwerer Schlag“, die Phobien für Bedrohungen, aber auch sonstige Belastungen bedeuten können.
Anfangs bestimmt der Gruppenleiter, wie viele Karten alle aufnehmen. Danach werden diese ins Niemandsland gespielt, können durch flammende Aufrufe Bedrohungen aus den Handkarten abgeworfen werden. Jeder Soldat besitzt einen persönlichen Glücksbringer, mit dem er eine Karte aus dem Niemandsland beseitigen darf. Das Ziel aller ist zu verhindern, dass drei identische Bedrohungen im Niemandsland und als Phobien offen ausliegen. Die Phobien zählen nur solange, bis sich ein Spieler zurückgezogen hat. Wer sich zurückzieht, gibt einem Kameraden verdeckt Rückhalt, der am Ende ausgewertet wird. Wer den meisten Rückhalt hat, darf zwei Karten „schwerer Schlag“ abwerfen. Das ist deshalb wichtig, da das Spielende auch dann eintreten kann, wenn vor einem Spieler vier Symbole „Schwerer Schlag“ ausliegen. Haben sich alle rechtzeitig zurückgezogen, werden Karten aus dem Niemandsland abgeworfen. Sollten vorher drei identische Symbole zu sehen sein, scheitert der Einsatz. Alle Karten kommen wieder auf den Friedenstaubenstapel und rücken das Überleben in größere Ferne. In jedem Fall hat die Gruppe an Moral verloren und muss mindestens drei Karten vom Denkmal-Stapel auf die Friedenstaube platzieren. Der nächste Gruppenführer legt nun erneut fest, mit wie vielen Karten er und seine Kameraden die nächste Runde überstehen wollen.
Bis zur Friedenstaube vorzudringen ist schwer, oft genug sehen die Soldaten ihre eigenen Grabsteine. Der Kriegsalltag ist überhaupt nicht kalkulierbar, das liegt vor allem an den Karten mit Fallensymbol. Werden diese gelegt, muss eine weitere Karte aufgedeckt werden, die oft die knappen Kalkulationen mit den Bedrohungen zunichtemacht. Die größte Erschwernis ist aber, dass es leider nur sehr leise im Schützengraben zugehen darf und für die jeweiligen Handkarten sogar ein Schweigegelübde gilt. Wer zumindest anfangs Erfolgserlebnisse haben will, lässt beim sogenannten „Spiel für Rekruten“ die Fallen weg. Wer es schwerer will, kann im „Spiel für Veteranen“ die Friedenstaube gleich mit 30 Karten abdecken.
Im häufigen Scheitern spiegelt sich die bedrückende Frontstimmung wider. Da wird eine harmlose Trillerpfeife eine angstbesetzte Bedrohung, da ist der Giftgasangriff bei Nacht plötzlich sehr real. Der einzige Hoffnungsschimmer ist das historische belegte gemeinsame Weihnachtsfest an der Front im ersten Kriegsjahr, diese Karte, die einen „Schweren Schlag“ beseitigt, gibt es aber leider nur einmal im Spiel.
Das muss man aushalten können, auch Erwachsene habe ich erlebt, die sich dem nicht stellen wollten. Wenn Gruppen sich aber darauf einlassen, dann gehört das Bestehen dieser Form von Kriegsschrecken zu einem ganz speziellen Spielerlebnis mit einem Aufatmen der besonderen Art, wenn Gustave, Anselm, Charles und Felix die Friedenstaube endlich sehen. Zur ganz besonderen Atmosphäre des Spiels tragen die Illustrationen des beim Anschlag auf Charlie Hebdo ermordeten Karikaturisten Tignous bei. Die Jury „Spiel des Jahres“ kommentiert zurecht: „Welch beklemmendes Gefühl in einem Spiel, das den Krieg bemerkenswert sensibel und grafisch beeindruckend thematisiert.“
Wertung: Nächste Woche wieder (weil ich mich nicht jeden Tag diesem schweren Thema stellen will)
Titel: LES POILUS
Autoren: Fabien Riffaud, Juan Rodriguez
Verlag: Sweet Games Vertrieb: Pegasus
Alter: ab 10 Jahren
Spielerzahl: 2 - 5 Spieler
Spielzeit: ca. 30 Min.
Preis: ca. 20 Euro
Spiel 44/2017