Donnerstag, 26. Dezember 2019
VILNIUS
Heike und Stefan Risthaus erfinden seit über 20 Jahren Spiele. Das Jura-Studium hat sie in Osnabrück zusammengeführt, jetzt leben sie schon gut 15 Jahre mit ihren beiden Kindern Fabia und Titus in Wolfsburg. Stefans erste Publikationen waren Siedler-Szenarien 1997. Mit OSTIA (Pro Ludo) gelang ihm 2005 sein Debüt in der Schachtel. Heike Risthaus musste nur zwei Jahre länger warten, bis BLINDES HUHN bei Kosmos erschien. Der Titel des ersten Spiels diente 2012 als Verlagsname für Kleinauflagen von Spielen, die thematisch oft im Mittelalter im Umfeld der Hanse angesiedelt waren. VISBY, RIGA, und TALLINN sind schon abgehandelt. Aktuell wird mit VILNIUS die Historie der nächsten baltischen Hauptstadt beackert. Diese Idee stammt aber aus der Feder Malte Meineckes, der u.a. „Braunschweig spielt“ mit aus der Taufe gehoben hat. Meinecke ist inzwischen nicht nur Autor bei Ostia Spiele, sondern Teilhaber am Verlag.
Waren die bisherigen Hansestädte-Spiele eher Unterhaltung für zwischendurch, bietet VILNIUS anspruchsvolle Abendbeschäftigung, die bei der Erstpartie gut zwei Stunden dauert, wenn sie nicht schnell verlorengeht. Meinecke vollzieht einen Perspektivwechsel, die Spieler schlüpfen nicht in die Rolle des Ritterordens, der ab Ende des 13. Jahrhunderts im Baltikum den Deutschordensstaat gründete. Wir agieren aus der Perspektive der Überfallenen, die sich gegen die Angriffe des Ordo Teutonicus wehren mussten. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts war Vilnius allein von sieben solchen Attacken betroffen.
180 kleine Spielkarten, die fast verloren in der nicht großen Schachtel wirken, reichen Meinecke für das Hin und Her zwischen Verteidigern und Angreifern. Kooperativ versuchen zwei bis drei Mitglieder des litauischen Hochadels nach zweimaligen Durchspielen des Kartensatzes, den finalen Ansturm abzuwehren, um sich und ihre Bevölkerung zu schützen. Wie in der realen Geschichte gelingt das nur schwer und in den ersten Runden eigentlich nie.
Jeder Spieler bekommt ein eigenes Stadtviertel mit Gebäude- und Provinzkarten, außerdem kommen Einheiten- und Zielkarten hinzu. Die Komplexität des Spiels kann über die Befestigungsstärke der Stadt geregelt werden, die mit einem Wert von 14 Verteidigungspunkten starten darf, was anfangs unbedingt genutzt werden sollte. Dieser Ausgangswert kann auf neun Punkte sinken, was das Gewinnen deutlich schwerer macht.
Die meisten Karten kommen erst im Laufe des Spiels in die Auslage, eine Baracke und ein Domizil sind der Anfang. Weitere Gebäude müssen mit Gold und Werkzeugen bezahlt werden, wofür die Provinzen herhalten müssen.
Jede Runde startet mit einer Einkommensphase. Anfangs sorgt das Domizil dafür, dass diese aus fünf Karten besteht, die vom Einheiten- und/oder Provinzstapel gezogen werden. Im Anschluss folgt die Phase des Ritterordens. Jeder muss von dessen Kartenstapel eine Karte ziehen. Gebäude des Ordens werden ausgelegt und haben solange Konsequenzen, bis sie zerstört werden. Gegnerische Einheiten wie Bogenschützen, Speerkämpfer und Reiter besitzen einen Angriffswert, der in Beziehung gesetzt wird zu dem persönlichen Wert der Ordensstärke. Ist dieser niedriger, greift der Ritterorden in Phase 4 an.
Vorher kommt aber noch die eigene „Stadtphase“, in der die Verteidiger Gebäude bauen, wobei Anlegeregeln zu beachten sind, die sich dominoartig aus den Randmotiven vorhandener Karten ergeben. So passen oben an die Baracke nur der Schützenplatz und darunter Pferdeställe. Die Bauwerke erhöhen die Ordensstärke und erschweren dadurch Angriffe. Ist ein Stall errichtet, ist die Voraussetzung für die Rekrutierung von Reitern gegeben, die ebenfalls zur Verteidigung beitragen.
Zu der Angriffswelle kommt es in der vierten Phase. Falls Angriffe eintreten, gelten sie entweder der ganzen Stadt oder einem Stadtviertel. In beiden Fällen kooperieren alle miteinander, um möglichst viele Überfälle abzuwehren. Dabei werden Waffensymbole der Angreifer und Verteidiger in Beziehung gesetzt. Zeigt ein Rammbock drei Schwerter und zwei Pfeile, wären Wikinger zur Unterstützung nicht schlecht, die bringen gleich jeweils Schwerter und Pfeile mit, dann braucht es nur noch einen Boyar oder leichten Reiter, um die Bedrohung des Ordens auszuschalten. Schäden wirken sich auf die Verteidigungskarte von Vilnius aus oder Gebäude, Einheiten oder Provinzen gehen verloren. Abgerechnet werden dann noch spezielle Totenköpfe auf den gegnerischen Karten, die zum Verlust weiterer Einheiten der Verteidiger führen. Für besiegte Feinde in addierten Fünferwerten gibt es aber Provinzen als Beute, außerdem dürfen restliche Einheiten Einrichtungen des Gegners angreifen, um den dauerhaften Beeinträchtigungen zu entgehen. Vernichtete Häuser bringen ebenfalls neue Provinzkarten. Sollten dann immer noch Einheiten übrig sein, berechtigt das zu weiteren Eroberungen von Gebieten. Erst nach dieser Phase wirkt sich im Übrigen der Gebäudebau auf die höhere Ordensstärke aus, die Angriffe in den Folgerunden erschwert, dafür aber auch mächtiger macht, da sich immer mehr Ordensritter vor den Mauern drängeln.
Die Ordenskarten regulieren das Spielende. Ist der erste Stapel fast durchgespielt, stoßen die Verteidiger auf eine Verstärkungskarte des Ordens. Diese hat zur Folge, dass alle Karten erneut gemischt werden, nur die letzte bleibt liegen, diese bringt den „finalen Ansturm“. In der zweiten Kartenrunde führen einige Karten zu stärkeren Angriffen, was die Verteidigung nicht einfacher macht. Sollte VILNIUS am Ende noch Verteidigungspunkte besitzen, haben die Litauer gewonnen, im Prinzip gemeinsam, kompetitiv lässt sich aber auch ein Einzelsieger ermitteln, was der Kooperation im Vorfeld allerdings irgendwie widerspricht.
Die verschiedenen Kartenformen, die vielen Symbole machen den Zugang zu VILNIUS nicht einfach. Ein großer Tisch ist nötig für die Gesamtauslage und die persönlichen Stadtviertelausbauten. Daher braucht es mindestens eine Eingewöhnungspartie, bis man sich in die Ikonographie eingelesen und den Spielrhythmus verinnerlicht hat. Über Erfolg und Misserfolg entscheidet oft die zufällige Reihenfolge der Ordenskarten. Alle wissen nur, dass sie in der allerersten Runde nicht bedroht werden. Aber schon danach kann es durch Gebäude und Angriffe des Ordens zu schweren Schäden kommen. Da muss eine vernünftige Balance bei der Kartenaufnahme der Verteidigungs- und Provinzkarten gefunden werden. Dabei lassen sich die Optionen durch Zukauf stärkerer Karten mit der Zeit verbessern, wobei die Vernetzung zwischen Gebäudebau und Personalanwerbung im Blick zu behalten ist.
Der Autor hat ein vielschichtiges Kartenspiel entworfen, das von der Gewichtigkeit her das Format einer großen Schachtel besitzen müsste, obwohl das Material fast in eine Adlung-Verpackung passen würde. Es ist etwas sperrig im Zugang, die Regeln könnten klarer sein, oft fehlt beispielhafte Bebilderung. Sind die Hürden überwunden, schafft man es vielleicht, genügend Mauern zu errichten, um die Zerstörung von VILNIUS im 14. Jahrhundert zu verhindern.
Wertung: Nächste Woche wieder
Titel: VILNIUS
Autor: Malte Meinecke
Grafik/Design: Christian Fiore
Verlag: Ostia Spiele
Alter: ab 12 Jahren
Spielerzahl: 2 - 3
Spielzeit: ca. 90 Minuten
Preis: ca. 22 Euro
Spiel 81/2019
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