Freitag, 27. November 2020
VENEZIA
Es war einmal
Rückblick auf Rezensionen zwischen 1990 und 2010
Klötzchenmehrheit in Venedig
Seit dem Erfolg von EL GRANDE lassen immer mehr Autoren kleine Holzklötzchen auf Spielbrettern verschieben, damit Mehrheiten gewonnen werden, Wertungssteine auf der „Kramerleiste“ vorankommen und nach 60 bis 120 Minuten ein Spielsieger feststeht. Alle drei Venedig-Spiele die in Essen 2000 (DOGE) und Nürnberg 2001 (SAN MARCO und VENEZIA) erschienen sind , folgen im Grunde diesem Prinzip. Klötzchensieger ist mit deutlichem Abstand das Spiel VENEZIA des Österreichers Ronald Hofstätter, der mit zwei Spieleveröffentlichungen bei Queen Games und vier bei Heros der Shooting Star innerhalb der Autorenneulinge ist. Zumindest numerischer Klötzchensieger, da in seinem bei Queen-Games erschienen Spiel VENEZIA ganze 140 Holzwürfelchen zum Einsatz kommen, gegenüber 100 in SAN MARCO und gut 90 Häusern und Palazzi in Colovinis Spiel der DOGE. Ausgezeichnet wurde bisher nur das Moon-Weissblum-Spiel SAN MARCO, immerhin mit einem Platz auf der Auswahlliste für das „Spiel des Jahres“. Es ist nicht zu erwarten, dass die beiden anderen Venedig-Spiele für eine Top-Ten-Platzierung gut sein werden. Warum das so ist, möchte ich an dieser Stelle für Hofstätters Spiel darlegen.
Den Stadtplan von Venedig hat man seit einigen Monaten gut drauf. Wir Spieler wissen, wo der Stadtbezirk Castello liegt, auch mit Dorsoduro können wir inzwischen etwas anfangen. Ortskundiger folgen wir Donna Leons Comissario Brunetti bei der Verbrechensbekämpfung im modernen Venedig. In dieses Venedig unserer Tage entführt uns augenzwinkernd Elena Obermüller, die für die Illustration VENEZIAs verantwortlich zeichnet. Endlich einmal nicht das große historische Duell um die Macht in der mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Dogenstadt, sondern eine moderne, satirische Adaption dieses Themas. Hier hatte im Übrigen auch nicht der, wie wir wissen, immer vorzüglich arbeitende Redakteur Bernd Dietrich seine Hand im Spiel. Das Thema stammt originär von Ronald Hofstätter, der die Spielidee mit einer ähnlich witzigen Grafik auf dem Göttinger Autorentreffen 2000 vorgestellt hat. In „Venezia“ geht es um die Lufthoheit, um das Machtduell der Taubenfamilien Cardinale, Bianca, Franco und Luigi.
Das Ambiente ist bekannt: Sieben Stadtbezirke Venedigs, in denen zwei bis vier Spieler mit Taubenmehrheiten Punkte sammeln können. Gesteuert wird das Spiel mit Hilfe von 18 Spielkarten, die jedem Spieler zur Verfügung stehen. Darunter sind Bezirkskarten, mit denen die Spieler geheim festlegen, wo sie ihre Tauben kreisen lassen möchten, darunter sind oft spielentscheidende Aktionskarten, von denen immer nur eine zum Einsatz gebracht werden darf, zusätzlich noch eine Markusplatz-Karte oder die entsprechende Finte dazu. Außerdem erhält jeder 40 kleine Würfel, die Tauben symbolisierend, einen quadratischen Holzmarker, der den Stammsitz der Familie in einem Stadtviertel kennzeichnet, und einen Holz-Pöppel, der die erworbenen Punkte auf einer Zählleiste am Rande des Spielplans anzeigt. Sobald dort das Wertungsfeld 50 erreicht wurde, endet das Spiel, wenn nicht vorher eine Taubenfamilie die Mehrheit in fünf von den sieben Bezirken erlangen konnte.
VENEZIA ist vielschichtig, ohne wirklich komplex zu sein. Die vier Phasen des Spielablaufes hat man nach zwei, drei Runden schnell verinnerlicht, was nicht bedeutet, dass sich dann auch ein zügiges Spiel entwickelt. Dazu gibt es viel zu viel zu entscheiden: In der Planungsphase wird der Karteneinsatz von maximal fünf Spielkarten festgelegt. Jeder Spieler besitzt ein Tableau, auf dem die fünf Karten verdeckt abgelegt werden. Die erste Entscheidung gilt der Frage, ob man neue Tauben auf den Markusplatz schicken möchte. 12 von den 40 Tauben stehen am Anfang flugbereit, zehn davon dürfen maximal auf die Piazza San Marco geschickt werden. Präsent muss man dort sein, denn die Fütterung der Touristen sorgt für den notwendigen Taubennachwuchs. Präsent muss man aber auch in den Bezirken sein, denn nur dort gibt es bei der entsprechenden Mehrheit Punkte für den Spielsieg. In maximal drei Bezirken kann man in jeder Runde Tauben unterbringen. Nicht ganz einfach ist die Entscheidung, welche der Aktionskarten zum Einsatz gebracht wird. Da lässt sich mit einer „Raubvogel“-Karte die Wertung in einem Bezirk verhindern, da lassen sich mit einer „Feindlichen Übernahme“ alle fremden Tauben in einem Bezirk durch eigene ersetzen, da können gegnerische Tauben auf dem Markusplatz vertrieben werden. Insgesamt acht verschiedene Karten dürfen einmalig eingesetzt werden. Wer allerdings am Ende einer Runde die Mehrheit an Tauben auf der Insel San Giogio Maggiore hält, bekommt eine Aktionskarte zurück.
Die Elemente der zweiten Phase sind untypisch für diese Form von Spielen, in denen es um die Erringung von Mehrheiten geht. Hofstätter hat hier ein kleines Spiel im Spiel dazwischen geschoben, das einen ganz eigenen Charakter besitzt, thematisch aber gut zu der Spielgeschichte passt. Aus dem Stadtplan heraus wird der Markusplatz gezoomt, ein rechteckiger Spielplan mit 8x10 Feldern. Dort können wir uns gut das Gewusel vieler Tauben vorstellen, die von Touristen gefüttert werden. Alle Spieler, die in dieser Phase Tauben auf den Platz schicken, platzieren ihre Taubensteine, ausgehend vom Startspieler, auf beliebigen freien Feldern. Dabei ist darauf zu achten, dass man von gegnerischen Tauben einer Farbe möglichst nicht in die Zange genommen werden kann, denn diese setzen der unterlegenen Taube so unerbittlich zu, dass ihr nur noch die Friedhofsinsel San Michele bleibt. Sinnvoll ist es auch, Bewegungsmöglichkeiten der eigenen Tauben im Blick zu behalten, denn diese können einerseits auf benachbarte Felder ziehen, andererseits auch Sprungkombinationen á la Halma nutzen. Wozu das Ganze? Am Touri hängt’s, zum Touri drängt’s! Zwei Touristen werden mit Hilfe einer Roulette-Scheibe auf dem Spielplan platziert, dazu kommt noch ein radikaler Taubenjäger. Hier schlagen Glück und Pech gleichzeitig unerbittlich zu. Der Taubenjäger vernichtet alle Vögel, die sich auf den acht Feldern um seinen Standort befinden, die Taube, die sich möglicher Weise auf seinem Feld befunden hat, natürlich auch. Im positiven Sinne bringen die Felder um den Touristen herum viel Futter und damit viel Nachwuchs. Dorthin dürfen Tauben sich aber wie oben beschrieben noch bewegen. Für jede Taube neben einem Touristen gibt es zweimal Nachwuchs, für Tauben, die sich direkt über einem Touri befinden, gibt es sogar fünf neue Tauben.
Der Taubennachwuchs kommt auf einem kleinen Tableau ins eigene Nest, von dort dürfen sie in der 3. Phase, in der die Aktionskarten gespielt und die Bezirkskarten aufgedeckt werden, den Stammsitz verstärken helfen. Da Hofstätters Tauben sehr ortsgebunden agieren, das heißt, dass sie sich nicht von einem Bezirk in den anderen bewegen, sollten immer genügend Tauben zurückbehalten werden, denn nur mit diesen startet man in die nächste Runde. Pech hat man vor allen Dingen dann, wenn die Karte „Familientreffen“ gespielt wird, die alle Nesthocker in einen Bezirk führt. Sind die Aktionskarten gespielt, die Tauben auf die gewünschten Bezirke verteilt, kommt es in der letzten Spielphase zur Wertung. In der Regel gibt es drei Punkte für Mehrheiten in einem Bezirk, gelingt die Machtübernahme in einem fremden Stammsitz, rückt man gleich sechs Punkte auf der Wertungsleiste weiter. Wer die meisten Tauben auf der Friedhofsinsel besitzt, erlebt eine Wunderheilung und erhält von dort zwei zurück, die er für die nächste Runde wieder zum Einsatz bringen kann. Noch wichtiger ist die Regel, dass der Bezirk mit den meisten Tauben total gesäubert wird. Diese Tauben gehen aber nicht erst den Weg über San Michele, sie gelangen alle direkt zu ihren Spielern zurück und sind sofort einsatzbereit. In der Folgerunde wechselt der Startspieler, was besonders für die Markusplatz-Phase wichtig ist, da für das Halma-Spiel die Spielreihenfolge ganz entscheidend ist. Sobald in der vierten Phase ein oder mehrere Spieler 50 Punkte erreicht haben, oder einer fünf der sieben Bezirke gewonnen hat, endet das Spiel, was allerdings meistens mindestens 90 Minuten dauert. Etwas schneller geht es, wenn der Variantenvorschlag mit drei Touristen umgesetzt wird, schwieriger und oft auch langwieriger wird es, wenn zwei Taubenjäger auf dem Markusplatz zum Einsatz kommen.
VENEZIA ist nichts für Zwischendurch. Volle Hausmannskost wird geboten, deren Zutaten aber gewöhnungsbedürftig sind. Die Rezeptbeschreibung ist exzellent. Textmarkierungen, passende Bebilderung akzentuieren alles Wesentliche. Irgendwie fehlt Hofstätters Spielspeise aber die Würze, der letzte Pfiff. Die satirische Leichtigkeit, die Spielschachtel und Spielgeschichte suggerieren, finde ich im Spiel nur in Ansätzen wieder. Vielleicht liegt es an den vielen Möglichkeiten zum Überlegen? Da wird man in der Planungsphase manchmal an TIKAL erinnert. Vielleicht liegt es an dem statischen Taubeneinsatz? Die Bewegungsvielfalt der Tauben, die auf dem Markusplatz hin und her hüpfen, gilt leider nicht für die Stadtbezirke. Vielleicht liegt es an der Ohnmacht des einzelnen auf der Piazza San Marco? Das Schicksal schlägt dort unbarmherzig zu. Die Sorge für entsprechenden Nachwuchs ist das spielentscheidende Element. Für mein Gefühl hat der Autor hier zu sehr auf den Glücksfaktor gesetzt. Alle Bewegungsmechanismen gaukeln nur taktische Möglichkeiten vor. Wer in dieser Phase mehrmals Pech hat, ist ganz schnell abgehängt und wird oft am Ende zum Königsmacher.
Das Ambiente ist wirklich stimmig umgesetzt, das Potential des Autors erkennbar, aber zu einem Spitzenplatz 2001 wird es nicht reichen.
Wieland Herold
Titel: Venezia
Verlag: Queen Games
Autor: Ronald Hofstätter
Grafik: Elena Obermüller
Spieldauer: ca. 90 Minuten
Spieler: 2-4
Alter: ab 10 Jahren
Preis: ca. 55 .- DM
Die Rezension erschien 2001 unter www.spiel-und-autor.de
Wertung Spielreiz damals 6 von 10 Sternen,
das entspricht: Nächste Woche wieder
Spiel 13/ 2001 R 158/2020
Zum Spiel und zum Autor:
Der österreichische Autor Ronald Hofstätter startete 2000/2001 erfolgreich durch, damals habe ich ihn als „Shooting Star“ der Autorenneulinge bezeichnet, der immerhin sechs Veröffentlichungen vorweisen konnte. Erfolge stellten sich erst später ein, so mit SCHILDI SCHILDKRÖTE (Haba), das 2005 zum Kinderspiel des Jahres nominiert war und den Kinderspielpreis in Österreich gewann, was ihm ein Jahr zuvor schon einmal für VENGA VENGA (Selecta) gelang.
Neben seinen eigenen Veröffentlichungen arbeitete Hofstätter als Vermittler für andere Autoren. Dazu gründete er 2003 die Agentur White Castle und arbeitete als unabhängiger Ideenscout für Hasbro und Pegasus.
Inzwischen hat er sich aus der Brettspielentwicklung weitgehend zurückgezogen. White Castle hat Anita Landgraf übernommen und erfolgreich weitergeführt. Der 50jährige Hofstätter lebt und arbeitet in Klosterneuburg bei Wien. Er engagiert sich für Kinder, veranstaltet Workshops und Tanzveranstaltungen u.a. zum Thema Aggressionsabbau und Selbstentfaltung. Hofstätter ist seit 2019 lizenzierter Kindertrainer des ÖFBs.
Die wenigsten wissen, dass er das Patent am großen queenschen Würfelturm besitzt, welches in den Spielen IM ZEICHEN DES KREUZES, WALLENSTEIN und SHOGUN genutzt wird.
Das Bild zeigt Ronald Hofstätter mit einem Löwen auf der Alm in Göttingen 2003.
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