Donnerstag, 6. Mai 2021
DIE VERBOTENE STADT
Es war einmal
Rückblick auf Rezensionen zwischen 1990 und 2010
Ganz schön teuer: DIE VERBOTENE STADT
Im letzten Jahr trat der Grafikdesigner Thomas Fackler in Göttingen auf und bot seine ABTEI DER WANDERNDEN BÜCHER in Einzelfertigung für 820 DM an. Die Spielwelt schüttelte den Kopf, ob des Preises, war aber von der Fertigungsqualität des Spieles durchaus angetan, so dass Fackler schon einige Vorbestellungen erhalten hat. Dieses Kratzen an Preisgrenzen setzt ganz aktuell der Branchenriese aus Ravensburg fort und wirbt mit einem Familienspiel weit jenseits der Preisgrenze von 60 DM. Das sollte verboten werden, was uns Ravensburger mit DIE VERBOTENE STADT zumutet.
Entwickelt haben DIE VERBOTENE STADT zwei bekannte Gesichter der Spieleszene Alex Randolph, der mit SAGALAND 1982 das Spiel des Jahres gewann und Johann Rüttinger, der im gleichen Jahr mit VOKABO auf der Auswahlliste der Jury stand und 1985 für DIE DREI MAGIER den Sonderpreis „das schöne Spiel“ erhielt. Von der grafischen Gestaltung bis zu den großen gedrechselten Spielfiguren war das schon ein ganz besonderes Spiel, das nicht einmal die Hälfte des Ravensburger Spiels kostete.
Immerhin sind mit 25 Holzchinesen auch eine Menge Figuren in der großen Spieleschachtel. Die Montage der Figuren ergibt jeweils fünf Körper in den Farben rot, gelb, blau, grün und schwarz mit unterschiedlichen Hütchen in eben diesen Farben. In einer Diebstahlgeschichte spielen sie eine wichtige Rolle. Im Reich der Mitte scheint die Macht des Kaisers auf dem absteigenden Ast. Hofbeamte scheuen nicht einmal davor zurück, seine Prunkgewänder zu stehlen. Damit ist das Spielziel für Randolphs und Rüttingers Spiel definiert: Die Kleider müssen wieder her.
Im Zentrum der VERBOTENEn STADT stehen am Anfang alle 25 Hofbeamten herum. Im Randbereich sind die Gewänder in Pavillons versteckt, jeweils Hut, Mantel und Hose in gemischter Reihenfolge. Jeder Spieler bekommt eine Bestechungstafel, mit der sowohl die Hutfarbe als auch der Körper eines Hofbeamten genau eingestellt werden kann.
Erst einmal bestimmt ein achtseitiger Würfel, welches der erste Zielpavillon wird. Die Bewegung der Figuren ist anfangs gewöhnungsbedürftig. Unabhängig von dem eingestellten Beamten, darf jeder jede Figur bewegen, allerdings muss der gewählte Beamte zumindest in der Anfangsphase letztendlich zum Zielpavillon geführt werden. Die Figuren werden stets orthogonal bewegt, bis sie auf ein Hindernis stoßen, dort darf der Spieler seinen Zug beenden, aber auch rechtwinklig abknickend weiterziehen bis zum nächsten Hindernis. Nur in einer Sackgasse, von der es einige auf dem Plan gibt, ist Schluss. Ist ein Zug beendet, entscheidet ein Schicksalswürfel darüber, ob es noch eine zweite, dritte oder gar vierte Zugrunde gibt. Nur wenn ein schwarzer Punkt gewürfelt wird, ist Schluss. Auf dem ersten Würfel gibt es nur einen solchen Punkt, auf dem zweiten schon auf jeder zweiten Seite und zum Schluss sind es gar fünf schwarze Punkte. Ärgerlich sind zusätzliche Sondersymbole auf den Würfeln, dadurch wird häufig die Planung zunichte gemacht, da der Zielpavillon geändert wird. Das Drachensymbol erlaubt sogar das Stehlen mühsam erworbener Kleider.
Wird ein Zielpavillon erreicht, bekommt der Spieler die oberste Gewänderkarte, sein Hofbeamter wird zusätzlich auf die Terrasse verbannt. Der Spieler stellt dann eine neue Kombination auf seiner Bestechungstafel ein. Sollte ein anderer Spieler ebenfalls den bestochenen Hofbeamten eingestellt haben, der im Pavillon angelangt ist, erhält er die Kleidung und nicht derjenige, der den Beamten geführt hat.
Ab dem Zeitpunkt, zu dem mindestens zwei Spieler eine Kleidungskarte besitzen, kommt ein zusätzliches Bluffelement ins Spiel. Wenn nun ein Beamter im Zielpavillon ist, deckt der Spieler seine Bestechungskarte nicht auf, sondern fragt in die Runde, ob sie ihm glaube. Wer blufft und damit durchkommt, ist sofort noch einmal am Zug. Wer falsch anzweifelt, verliert eine Karte an den Gegner. Wenn der Bluff misslingt, bekommt der Zweifler die Karte aus dem Pavillon und eine zweite vom Schummler.
Sobald zehn Spielfiguren auf die Terrasse verbannt sind, beschleunigt sich das Spiel . Ab sofort bekommt jeder sämtliche Gewänder, die noch im Pavillon herumliegen. Mit der 15. Spielfigur auf der Terrasse ist dann Schluss. Eine einzelne Gewänderkarte bringt nur einen Punkt, zwei Karten einer Farbe immerhin vier Punkte. Ein vollständiger Kleidungssatz in unterschiedlichen Farben bringt sechs Punkte und schließlich bringt der Straight-Flush in diesem Spiel, die drei Gewänderkarten in einer Farbe , zehn Punkte.
Das Raffinierte an DIE VERBOTENE STADT ist der taktische Zugmechanismus, der im Fortgang des Spiels durch den Blufffaktor unterstützt wird. Gejubelt wird häufiger, wenn ein Bluff gelingt oder wieder einmal ein Gegner die eigene Figur ins Ziel führt. Gerade das Bluffen macht aber so richtig erst mit drei oder viel Spielern Spaß, da lässt der Spielreiz zu zweit eher nach. Vom Grundansatz haben Rüttinger und Randolph auf einen Bewegungswürfel verzichtet, aber leider nicht auf den Glücksfaktor. Die Zufälligkeit beim Klauen von Karten stört den Spielablauf schon gewaltig.
Insgesamt ein interessantes Spielkonzept mit schönem Material, dessen Anschaffung aber eindeutig zu teuer kommt.
Titel: DIE VERBOTENE STADT
Autor: Alex Randolph, Johann Rüttinger
Grafik: Johann Rüttinger, Ulrich Lichthardt
Verlag: Ravensburger
Spielerzahl: 2-4
Alter: ab 12 Jahren
Spieldauer: ca. 45-60 Minuten
Preis: ca. 85.- DM
Spiel 7/1992 R77/2021
Die Rezension erschien 1992
Wertung Spielreiz damals 6 von 10 Sternen,
das entspricht: Nächste Woche wieder
Zum Spiel und zu den Autoren:
Alex Randolph war der Kosmopolit unter den Spieleautoren. 1922 in Böhmen geboren. Seine Mutter stammte aus Colorado, sein Vater war Russe. Schon als Kind lebte er mehrere Jahre in Venedig, bevor er als Zehnjähriger in ein Schweizer Internat geschickt wurde. Ein Jahr vor dem Zweiten Weltkrieg ging die Familie zurück in die USA. Während des Krieges arbeitete er am Entschlüsseln feindlicher Codes.
Nach dem Krieg lebte er als Werbetexter und Romancier in Boston, bevor er 1961 mit Pentomino-Steinen sein erstes Spiel veröffentlichte. Randolph siedelte dann nach Wien um, spielte dort im Café Hawelka TWIXT mit Herbert Feuerstein, das bald als 3M-Spiel in einer edlen Buchschuberausgabe erschien und ihm einen mehrjährigen Aufenthalt in Japan finanzierte. Mitte der 70er Jahre fand der Spieleautor nach Venedig zurück, wo er 2004 starb.
Anfangs entwickelte er, inspiriert durch die Japanreise, hauptsächlich taktische Spiele für zwei, wie EVADE, BUFFALO und GEISTER. In den 80er Jahren erfand er erfolgreich viele Familienspiele wie SAGALAND, „Spiel des Jahres“ 1981, das er zusammen mit seinem engen Freund Michael Matschoss entwickelte, der sich inzwischen um sein spielerisches Erbe kümmert. Es blieb zwar sein einziges „Spiel des Jahres“, für GUTE FREUNDE (1989) gewann er den ersten Sonderpreis „Kinderspiel“, was er mit LEINEN LOS! 1997 noch einmal wiederholte. INKOGNITO (1988) und VENICE CONNECTION (1996) bescherten ihm den Sonderpreis „Schönes Spiel“.
In den 90er Jahren arbeitete Randolph eng mit Johann Rüttinger zusammen. Hierbei entstand auch DIE VERBOTENE STADT. Vorher hatten sie beide schon TWIDDELDUM bei Noris veröffentlicht. Rüttinger war in den 80er Jahren erfolgreich als Autor und Grafiker für Noris und hat für den Verlag viele Auszeichnungen eingefahren (vgl. Text).
1994 gründeten er und seine Frau Kathi Kappler den Spieleverlag Drei Magier Spiele, der viele Spiele von Randolph veröffentlichte, so VENNICE CONNECTION, das 1996 den Sonderpreis der Jury Spiel des Jahres für das „Schöne Spiel“ erhielt. 2004 bekam der Verlag für Michelle Schanens GEISTERTREPPE den Titel für das Kinderspiel des Jahres. 2008 übernahm der bisherige Vertriebspartner Schmidt Spiele, die Marke Drei Magier. Kappler und Rüttinger gründeten mit Drei Hasen in der Abendsonne einen neuen Verlag, der zuerst nur Bücher veröffentlichte, darunter das lesenswerte Buch Randolphs „Die Sonnenseite. Fragmente aus dem Leben eines Spieleerfinders“, später aber auch wieder Spiele herausgab. Darunter wieder viele, die von der Kinderjury und Spiel des Jahres Jury empfohlen wurden.
DIE VERBOTENE STADT würdigte die Jury Spiel des Jahres 1992 auf ihrer Empfehlungsliste. Das Bewegungsprinzip tauchte dann später in Randolphs RASENDE ROBOTER wieder auf.
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