Mittwoch, 16. Juni 2021
WIE ICH DIE WELT SEHE
Es war einmal
Rückblick auf Rezensionen zwischen 1990 und 2010
WIE ICH DIE WELT SEHE
Einsteins Antwort auf diese Frage sah 1930 u.a. so aus: „Der wahre Wert eines Menschen ist in erste Linie dadurch bestimmt, in welchem Grad und in welchem Sinn er zur Befreiung vom Ich gelangt ist.“ Urs Hostettlers spielerische Antworten ergeben im Jahre 2004 eine weniger philosophisch geprägte, dafür unheimlich unterhaltsame Einsicht in die heutige Welt. Die Spieler des Kommunikationsspiels WIE ICH DIE WELT SEHE, mindestens vier, neun (!) sind aber auch möglich, bezeichnet der Schweizer Spielautor als „Idewedwes“, im Singular ist das ein Individuum, das erläutert, wie es die Welt sieht.
Keine Angst, Ihre Philosophiekenntnisse kommen nicht auf den Prüfstand, die weltbewegenden Fragen (leider nur 112) sind profan, erotisch, politisch und hostettlerisch. Ein Beispiel gefällig: „Die Schilder „Käkkivaara nuotsin“ in finnischen Wäldern weisen auf ES hin“. Dieses „Es“ gilt es mit Sinn zu füllen und zwar nicht aus dem hohlen Bauch heraus mit Antworten wie „Froschwanderung“ oder „Elchbrunft“, sondern aus dem Reservoir von 12 „Es-Kärtchen“, die jeder aus einem Vorrat von knapp 400 Kärtchen erhält. Das „Idewedwes“ muss bald viele „Es“-Erklärungen miteinander vergleichen und zwar nicht nur die seiner Mitspieler, sondern ein blind gezogenes „Es“ vom Kartenstapel ist auch dabei. Da sieht sich das erläuternde Individuum mit Antworten wie „frei schwebende Jungfrauen“, „Kopftücher“, „undefinierbare Grunzlaute“, „Hexen“ und „Maulwürfe“ konfrontiert. Die Entscheidung für ein „Es“ trifft allein das „Idewedwes“, dabei sollte es sich schon von rationalen, manchmal auch kreativen Überlegungen leiten lassen, denn die Wahl des zufällig gezogenen Stapelkärtchens wird knallhart bestraft. Eine Gewinnkarte, die man erhält, wenn man vom „Idewedwes“ auserwählt wird, muss abgegeben werden und man wird zum „Tafkai“ degradiert, „the artist formerly known as Idewedwes“. Diese Rolle gibt man erst ab, wenn eine Mitspielerlösung bei der „Welterklärung“ gewählt wird und damit Punkte vergeben werden. Die „Es“-Kärtchen werden stets wieder auf 12 ergänzt.
Gespielt wird auf vier bis sieben Gewinnpunkte, aber daran denkt bald niemand mehr. Der Spaß an den Lösungen führt meist zu viel Gelächter. So passen die „Es“-Kärtchen zu vielen scheinbar tiefschürfenden „Meine Welt“-Karten. Die Antworten oben könnten wir uns doch auch gut für folgende Ausgangskarten vorstellen: „Im Innern einer Kathedrale kommt ES besonders zur Geltung“ oder „Was nur seine engsten Freunde wissen: der deutsche Bundeskanzler steht auf ES“.
Für geübte Welterklärer gibt es Doppelwelten, Aussagen mit zwei Leerstellen, die entsprechend mit zwei Kärtchen gefüllt werden müssen. Die Spielregel enthält außerdem noch Varianten für zwei oder drei Spieler, bei denen vor allem die Zahl der zufällig gezogenen Lösungskarten vom Stapel erhöht wird. Das funktioniert zwar, aber den eigentlichen Spaß haben große Spielrunden. Urs Hostettler ist Garant für kommunikative Leckerbissen. Der herrliche Partyspaß WIE ICH DIE WELT SEHE steht in der erfolgreichen Tradition von EIN SOLCHES DING, SCHRAUMELN und ANNO DOMINI. Es ist zu hoffen, dass ganz im Stil der ANNO DOMINI- Reihe noch viele Welterklärungsansätze aus der Schweiz zu erwarten sind. Mit den gut hundert Karten der Erstfassung ist das Spiel noch lange nicht ausgereizt. Mitgeliefert wird dann sicherlich wieder die „Helpline“ im Regelanhang: ein ganz besonders amüsanter Einblick in die Weltsicht des Autors. So erfahren wir über den „sardischen Pfeifhasen, dass er bei Gefahr wie ein Murmeltier pfiff, aber offenbar zu wenig laut. Ausgestorben.“ Ich wage die Prognose, dass WIE ICH DIE WELT SEHE nicht so schnell aussterben wird, die meisten Neuheiten des Jahres wird es lange überleben.
Titel: WIE ICH DIE WELT SEHE
Autor: Urs Hostettler
Grafik: Res Brandenburger
Verlag: Abacus
Spieler: 2-9
Alter: ab 10 Jahren (einige Karten, sollten dann aber aussortiert werden)
Spieldauer: >30 Minuten
Preis: ca. 12 €
Spiel 24/2004 R94/2021
Die Rezension erschien 2004 unter www.spiel-und-autor.de
Wertung Spielreiz damals 7 von 10 Sternen,
das entspricht: Gerne morgen wieder
Zum Spiel und zum Autor:
Der Berner Autor und Liedermacher Urs Hostettler gründete 1982 mit dem Verlag Fata Morgana einen eigenen Spieleverlag und eine Vertriebsfirma für Spiele und Liedermacher-Platten. 1985 kam der renommierte Laden das „DracheNäscht“ dazu, ein Verkaufsladen für Spiele und Drachen in der Berner Altstadt, der immer noch existiert. Den Trend zu Krimispielen hat er mit seinen MYSTERIE WEEKENDS schon lange vorweggenommen. Seit 1993 unterhält er mit Stücken wie MORSOC und GENIE UND WAHNSINN.
Mit KREML, EIN SOLCHES DING, SCHRAUMELN und WIE ICH DIE WELT SEHE landeten Spielentwicklungen Hostettlers auf der Auswahl- und Empfehlungsliste der Jury Spiel des Jahres. Auch das geniale TICHU und die ANNO DOMINI-Reihe stammt von ihm. Die meisten seiner Spiele hat Abacus in Deutschland herausgebracht.
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