
Es war einmal
Rückblick auf Rezensionen zwischen 1990 und 2010
DAS ZEITALTER NAPOLEONS 1805 bis 1815
Eine Spieldauer von nur einer Stunde signalisiert die von Franz Vohwinkel eindrucksvoll mit einem Schlachtenpanorama versehene Spieleschachtel - die napoleonischen Kriege für’s Massenpublikum?
Weit gefehlt, das strategische Brettspiel für zwei Spieler ab zwölf Jahren (viel zu niedrig angesetzte Verlagsangabe!) von Renaud Verlaque setzt den versierten Cosim-Spieler voraus oder zumindest in Regelinterpretation erfahrene Brettspielstrategen. Sechs Jahre hat der kanadische Autor für seine Spielentwicklung gebraucht, dabei stets das Ziel vor Augen, ein Strategiespiel zu entwerfen, das in „drei Stunden durchzuspielen“ sei und „gleichzeitig eine solide historische Basis“ ausweise. Reduktion in vielen Bereichen spielte für den Autor bei der Planung eine wichtige Rolle, so z.B. die Konzentration auf nur zwei Protagonisten Großbritannien und Frankreich. Renaud Verlaque geht in seinen „Anmerkungen“ zur Spielentwicklung ehrlicher mit dem Produkt um, als der Verlag das nach außen hin tut. Ich stelle mir nur den unbedarften Käufer vor, der auf der Schachtelrückseite sogar erfährt, dass er – geübt – ein kurzes Szenarium schon in 45 Minuten abwickeln könne.
Vor diesen von uns nie erreichten Schnelldurchgängen durch die napoleonischen Jahre ist erst einmal ein Langdurchgang Regelstudium angesagt. 14 Regelseiten, 11 Szenarienseiten, dazu zwei detaillierte Spielerhilfsblätter mit Strategie-, Verstärkungs-, Schlacht-, Marsch-Verlust- und Winter-Verlust-Tabellen wollen erst einmal erarbeitet und verstanden sein. Dabei möchte man, wenn man das Material sieht, gleich loslegen.
Der Autor verlangt erst einmal eine Entscheidung unter drei Szenarien: Ein langes ab 1805 am Vorabend der Schlacht von Austerlitz, ein mittleres ab 1809 zu Beginn des Wagram-Feldzuges und schließlich ein kurzes Szenario ab 1813 nach der vernichtenden Niederlage im Russlandfeldzug 1812. Die jeweiligen Vorgaben berücksichtigen historisch genau die diplomatische Ausgangssituation, aus der militärische Konsequenzen ableitbar sind. Entsprechend werden Pappplättchen, die einem Feldherren zugeordnet sind u.a. mit Kampf- und Bewegungswerten - auf dem großen Spielplan platziert. Außerdem gibt es szenarienabhängig fünf bis zehn spielsteuernde Karten für die beiden Kontrahenten England und Frankreich.
DAS ZEITALTER NAPOLEONS läuft in Jahres-Rhythmen ab. Innerhalb eines Spieljahres sind acht besondere Phasen abzuwickeln. Die Spieler starten ins jeweilige Spieljahr mit diplomatischen Aktionen. In dieser Phase kommen ausschließlich Spielkarten zum Einsatz, um die diplomatische Ausrichtung von Ländern zu verändern. Nur acht von den 55 Spielkarten dienen der Diplomatie, so dass oft überhaupt keine Karte eingesetzt werden kann oder nur einer der Spieler diese Möglichkeit besitzt. Dabei sind die Karten in kippligen Situationen oft spielentscheidend, da mit ihnen Staaten neutral gemacht oder auf die französische oder englische Seite gezogen werden können. Dadurch gehen Truppenspielsteine verloren oder es werden neue aufgebaut.
Die Aufruhr-Phase kann meist übersprungen werden, denn nur zwei ausschließlich vom Koalitions-Spieler einsetzbare Karten bewirken Aufruhr in einem französischen Herrschaftsgebiet. Am Anfang dieser Phase wird geprüft, ob ein eventueller Aufstand aus dem vergangenen Jahr erfolgreich oder fehlgeschlagen ist. Sollten französische Truppen noch im aufständischen Gebiet stehen, gilt der Aufruhr als fehlgeschlagen, ansonsten schließt sich das Gebiet der Koalition an. In dieser Phase können natürlich neue Länder in Aufruhr versetzt werden, sofern der England-Spieler eine der seltenen Karten besitzt und ausspielt.
Kartennachschub gibt es in der dritten Phase, die der Autor Strategie-Phase nennt. Überhaupt nicht strategisch, sondern ganz zufällig werden die Karten ausgetauscht. Alle noch vorhandenen Karten müssen abgeworfen werden. Die Neubestückung bis auf maximal zehn Karten ergibt sich aus der jeweiligen Länderkontrolle. Mit den neuen Karten können sich die Spieler auf das eigentliche Kernstück des Spiels, die Feldzüge, vorbereiten. Deshalb wird vor der kriegerischen Auseinandersetzung noch eine Verstärkungs-Phase abgehandelt. Für jedes kontrollierte Land erhalten die Spieler neue Truppenspielsteine. Abhängig sind diese Verstärkungen von einem Aufbau- und Mobilisierungs-Limit. Das erste Limit legt die maximale Erhöhung für das aktuelle Jahr fest, das zweite die maximale Anzahl von Truppenspielsteinen eines Landes auf dem Spielbrett. Die Phase wird mit Hilfe einer Tabelle abgewickelt, wobei alle neuen Spielsteine immer aus heimatlichen Gebieten starten müssen.
Außerdem dürfen die Spieler abgekämpfte Truppen durch Abwerfen von Spielkarten stärken und gefangene Truppenspielsteine in die Reserve überführen. Knapp zwanzig Prozent der Spielkarten steuern auch diese Phase, dabei können Aufbau-Limits gesenkt, erhöht oder sogar ignoriert, Truppenspielsteine ausgetauscht werden; sogar Napoleon kann es treffen, indem er in die Heimat abgeordert wird. Die historische Stimmigkeit, auf die Verlaque sonst viel Wert liegt, wird zumindest hier brüchig. Eine Reihe von Ereignissen spielen plötzlich eine Rolle, die eher ins 18. Jahrhundert und nicht ins frühe 19. Jahrhundert gehören.
Nun geht es endlich ans Eingemachte. Die Frage, ob sich die ganzen Vorbereitungen gelohnt haben, wird in sechs Feldzugsrunden beantwortet. Das Jahr wird in zwei Monatsphasen abgewickelt, wobei die letzten beiden Runden unter den besonderen Bedingungen des Wintereinbruchs stehen. Rund die Hälfte aller Spielkarten können für diese Phase eingesetzt werden, sie dienen einerseits der Truppenbewegung, andererseits beeinflussen sie die Kampfbedingungen in einer Schlacht. In jeder Runde darf in der Regel nur eine Armee bewegt werden, bis auf die Erstbewegung kostet diese Aktion jeweils eine Karte. Die Bewegungsweite und die Anzahl der Truppen einer Armee ergeben sich aus den Vorgaben der Spielsteine. Napoleon kann zum Beispiel durch vier Gebiete ziehen und bis zu acht Truppenspielsteine mit sich führen, sein Bruder Jerôme, bringt es nur auf eine Zugweite in zwei Gebiete hinein, er führt maximal vier Truppenteile. Auf langen Märschen müssen Marschverluste über eine Tabelle würfelnd geprüft werden. Stehen sich am Ende gegnerische Armeen in einem Gebiet gegenüber, kommt es zur Schlacht. Diese wird extern in einem quadratischen Schlachtfeld ausgetragen, dorthin kommen alle beteiligten Truppen. Einfluss auf den Ausgang der Schlacht haben einmal die Kampfwerte der Armeen, Zuschläge gibt es für Kämpfe in Heimatgebieten. Natürlich können Spielkarten wieder den Kampf beeinflussen, entscheidend ist letztlich aber ein einziger Würfelwurf. Danach wird mit Hilfe der Schlacht-Tabelle der gegnerische Verlust bestimmt. Die Schlacht wogt also nicht ständig hin und her, es wird nur festgestellt, welche Seite der anderen mehr Verluste zugefügt hat und damit ist der Sieger schon bestimmt. Im Falle des gar nicht so seltenen Gleichstandes wird ein zweites Mal gewürfelt unter Addierung eines so genannten Tie-Break-Modifikators, ein Wert, der abhängig von der jeweiligen Kampfstärke ist. Sollte immer noch ein Gleichstand eintreten, gewinnt der Verteidiger. Die Verluste sind zur einen Hälfte temporär, zur anderen Hälfte aber endgültig. Der Verlierer muss sich in ein angrenzendes feindfreies Gebiet zurückziehen. Alle beteiligten Truppen werden als „abgekämpft“ bezeichnet, die Truppensteine werden gedreht und haben verringerte Kampf- und Bewegungswerte. Nur der Sieger hat die Möglichkeit gegen Abgabe von einer Karte diesen Status zu umgehen. Nach der Kampf-Phase wird geprüft, ob Staaten kapitulieren. Kleinstaaten kapitulieren bei Besetzung sofort, Großmächte erst dann, wenn ihr Hauptstadt-Gebiet vom Feind besetzt und die Truppenanzahl der Gegner höher als die eigene ist. Großmächte werden danach erst einmal neutral.
Neben der Kapitulation werden die Winter-Verluste überprüft, die alle Gebiete mit mehr als drei Truppenspielsteinen betreffen können. Festgelegt werden die Verluste mittels Tabelle, Spielkarten und besonders geregelten Stationierungsbedingungen. Verluste, die in dieser Phase eintreten, sind endgültig.
Abschließend wird überprüft, ob ein Spieler die Siegbedingungen erfüllt hat. Verlaque unterscheidet zwischen einem geringfügigen und einem entscheidenden Sieg. So kann Frankreich nach 1811 „geringfügig“ siegen, wenn es alle an Frankreich angrenzenden Länder und Österreich oder Russland unter Kontrolle hat, wobei das nicht kontrollierte Land mindestens neutral sein muss. Für die Koalition ist der „geringfügige Sieg“ erreicht, wenn der französische Spieler nur noch französische Gebiete kontrolliert. Für den Gesamtsieg wird Frankreichs Kapitulation und der endgültige Verlust des Truppensteins Napoleons verlangt, umgekehrt muss Napoleon Kontinentaleuropa unter Kontrolle haben, höchstens Neutralität der kleinen Staaten wird erlaubt. Steht bis 1815 kein Gewinner fest, darf sich Frankreich als „moralischer Sieger“ fühlen.
Die Spielbeschreibung gibt nur den Kern des Spielablaufs wieder, aber auch der macht deutlich, dass drei Spieljahre von 1813 bis 1815 kaum in 45 Minuten spielbar sind. Problematisch ist, dass genau dieses Szenario - historisch korrekt – spielerisch unbefriedigend in der Chancenverteilung völlig unausgewogen ist. Den meisten Spielern wird es aber so gehen, wie uns, dass das kurze Spiel als Aufwärmtest genommen wird. Wir haben für diese erste Runde fast drei Stunden gebraucht und auch bei einem zweiten Versuch immer noch zwei Stunden. DAS ZEITALTER NAPOLEONS spielt sich, trotz einfacher Kampfregeln, nicht flott dahin. Auch wenn die Phasenabwicklung mit der Zeit recht zügig abläuft, gibt es doch immer wieder die Detailfragen, für die die Regel herhalten muss.
Für den Autor entscheidend ist, dass sein Napoleon-Spiel, ein „durch Karten betriebenes Strategiespiel“ ist, vielleicht gaukelt es uns Spielern damit aber ein Mehr an Einflussnahme vor, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist. Wir erleben in einer atmosphärisch dichten, spielerisch animierenden vohwinkelschen Welt einen Einblick in die napoleonische Ära, der nah an den damaligen Bedingungen ist. Die sich daraus ableitenden strategischen Möglichkeiten entspringen aber nicht mehr dem taktischen Kalkül eines Napoleons oder Wellingtons, sie geraten in eher zufällige Abhängigkeiten eines Kartenblattes und Würfelwurfs.
Für Normalspieler, die, wenn sie auf die Schachtelinformationen vertrauen, durchaus zum Käufer werden könnten, ist DAS ZEITALTER NAPOLEONS absolut nicht zu empfehlen. Sechstklässler, für die die Altersempfehlung des Verlages gilt, werden mehr als überfordert sein. Für eingefleischte Cosim-Spieler bietet das Phalanx-Spiel verdauliche Kost, sicherlich auch Spielvergnügen. Die Detailarbeit des Autors ist zu loben, die grafische Bearbeitung ebenfalls. Die Redaktion hat ein umfangreiches Regelwerk erstellt, für das ich mir aber über die Spielhilfsblätter hinausgehende Regelhilfen gewünscht hätte. Das Feldzüge spielerisch anspruchsvoll, abwechslungsreich und den Spannungsbogen haltend, ablaufen können, zeigt der Verlag mit dem massentauglichen ALEXANDER. NAPOLEON wird in der Freak-Ecke bleiben müssen.
Titel: DAS ZEITALTER NAPOLEONS 1805-1815 Games
Autor: Renaud Verlaque
Grafik: Franz Vohwinkel
Verlag: Phalanx
Spieler: 2
Alter: ab 12 Jahren ; besser ab 16
Spieldauer: angeblich 60 Minuten, meist deutlich länger
Preis: ca. 40 Euro
Spiel 25/2004 R101/2021
Die Rezension erschien 2004 unter www.spiel-und-autor.de
Wertung Spielreiz damals 6 von 10 Sternen,
das entspricht: Nächste Woche wieder
Zum Spiel und zum Autor:
Der 54jährige Renaud J. Verlaque ist US-Amerikaner und lebt im Umfeld New Yorks. Neben dem Napoleon-Spiel hat er 2008 mit THE PRICE OF FREEDOM ein weiteres Cosim zum amerikanischen Bürgerkrieg veröffentlicht. 2017 folgte mit THE BIG PUSH ein Spiel an der Westfront des Ersten Weltkriegs. Bei allen drei Veröffentlichungen bleibt er dem Duell-Charakter treu.