
Es war einmal
Rückblick auf Rezensionen zwischen 1990 und 2010
Weg vom Würfeleinerlei
Kreativität ist wohl die gefragteste Eigenschaft bei unseren bundesdeutschen Spieleerfindern. Weg vom Würfeleinerlei, hin zu immer wieder unkonventionellen Spielmechanismen, die neue Spielreize entdecken lassen, scheint ein Markenzeichen der guten Vertreter dieser Zunft zu sein.
Ein Spieleautor aus München fällt dabei seit zwei Jahren durch stets überraschende Neuerungen in seinen Spielen auf. Reiner Knizia, 35 Jahre alt, verheiratet, noch kinderlos, bei einer großen deutschen Bank in München beschäftigt, ist dieser Stern am Autorenhimmel, dessen Spiele immer mehr beweisen, dass er neben den ganz Großen, wie Teuber, Randolph und Kramer genannt werden muss.
Spielspannung und kommunikative Elemente sind ihm besonders wichtig. Bis zum Schluss bleibt offen, wer als Sieger aus einer Spielrunde hervorgeht. Hoffnung auf den Spielsieg können sich bei Knizia-Spielen meist alle noch machen, für Aufregung bis zum Ende ist stets gesorgt.
Nur wenige Ereignisse fesselten in unserem Jahrhundert das Interesse und die Fantasie der Menschen so intensiv und über eine sehr lange Zeit, wie die Auffindung des Tutanchamun-Grabes 1922 im Tal der Könige. Hat im letzten Jahr Franckh-Kosmos dort nach Schätzen gegraben, bzw. eher umgekehrt die Pyramiden wiedererstehen lassen, so wenden wir uns bei Amigo den echten Schätzen des Kindkönigs zu, der mit 17 Jahren das Zeitliche segnete.
Folgen wir Knizias Spuren nach Ägypten. Treten wir in die Fußstapfen des Archäologen Howard Carters und seines Auftraggebers Lord Carnarvons, Entdecker der Schätze Tutanchamuns, nähern wir uns der bekannten Goldmaske des Pharaos.
Die Goldmaskenabbildung Tutanchamuns auf einer großen Spieltafel hat die Funktion eines Spielstandsanzeigers. Sonst kommt TUTANCHAMUN ganz ohne festen Spielplan aus. Jedes Mal neu werden trapezförmige Schatzkarten aneinandergelegt, so dass ein schlangenartiger Weg hin zu einer kleinen Pyramide führt. Die ausgelegten Grabbeilagen gilt es einzusammeln. Die Spieler würfeln sich als Schatzgräber nicht auf den Schatzkarten vorwärts, sondern kommen ganz ohne den Zufallsgenerator aus und dürfen sich völlig frei, beliebig weit in Richtung Pyramide bewegen, um Schatzkarten einzusammeln. Sie dürfen aber nicht umkehren. Eine raffinierte Grundidee, deren spieltechnische Steuerung durch einen ausgefuchsten Wertungsmechanismus erfolgt.
Von den Schatzkarten gibt es nämlich unterschiedliche Mengen, die dem jeweiligen Wert einer Karte entsprechen, so gibt es 1er, 2er, 4er, 6er und 8er Schätze im Spiel. Immer wenn der letzte Schatz einer Schatzart abgeräumt werden kann, wird gewertet. Der Spieler, der die meisten Schätze zum Beispiel des schönen SENET-Spieles besitzt, darf die volle Wertungspunktzahl auf der Goldmaske vorwärtsschreiten. Da es SENET achtmal gibt, sind das immerhin 8 Felder. Der Zweitplatzierte wandert immerhin noch die Hälfte der Felder voran. Gibt es zwei Sieger, teilen sich diese die maximale Punktzahl. Gibt es zwei oder mehrere Zweite, gehen diese alle leer aus. Besondere Schatzkarten helfen hier zum Teil weiter. Beim Patt nutzt ein Kanopen-Deckel - im Anhang der Regel gibt es übrigens ein nützliches kleines ägyptisches Lexikon. Wer also mit einem "Kanopen-Deckel" nichts anfangen kann, der sieht nach und erfährt, dass dies die Verschlussdeckel für die Eingeweidekrüge der Verstorbenen waren - , er kann den Ausschlag für die volle Wertung ergeben. Mit Goldklumpenkarten, von denen drei im Spiel sind, berauben sich die Schatzgräber untereinander. Zum Schluss gilt es, die Goldmaske Tutanchamuns zu erwerben, die als Joker eingesetzt werden kann. Der erste Spieler, der die Pyramide erreicht, erhält diesen wertvollen Schatz, da lohnt manchmal auch ein weiter Sprung nach vorn, wenn man weiß, dass eine entscheidende 8er-Wertung bevorsteht.
Ein faszinierendes Spiel, bei dem man genau die Sammelaktivitäten der Mitspieler im Auge haben muss. Jedes Mal muss man neu entscheiden, ob man zum großen Sprung nach vorn ansetzt oder doch lieber kleinschrittig noch einige Schätzchen sammelt. Spielspaß vom Anfang - schon das Zusammenlegen der Schatzkartenschlange bereitet Vergnügen - bis zum Ende. Wer konnte denn nun am weitesten vorrücken? Auch hier liegt eine zusätzliche Dynamik, da das Spiel nicht unbedingt erst endet, wenn alle bei der Pyramide sind. Das Erreichen der Uräusschlange auf der Wertungstafel beendet ebenfalls das Spiel.
Reiner Knizia hat jedenfalls einen Spielschatz gehoben, der ihm sicherlich Autorenehrungen einbringen wird. Ob es der Titel für das beste "Spiel des Jahres" 1993 sein wird, bleibt allerdings fraglich, da er sich selbst mit weiteren hervorragenden Brettspielen Konkurrenz macht. Für den Käufer, der sich vielleicht nur einen Knizia leisten kann, spricht vieles für das hier vorgestellte Spiel. Denn preislich macht dieses hervorragende Spiel das Rennen um die in letzter Zeit oft überschrittene 60.-, 70.-DM-Hürde nicht mit. Es kostet nicht einmal die Hälfte. Das Preis-/Leistungsverhältnis kann also gar nicht besser sein.
Gereicht hat es 1993 tatsächlich nicht für die ganz großen Würden, TUTANCHAMUN kam aber auf die Auswahlliste und erreichte den zweiten Platz beim Deutschen Spielepreis. Die vielen Würfel, auf die Knizia bewusst verzichtet hat, die Richard Borg in BLUFF wichtig waren, machten das Rennen. Die eigene Konkurrenz, auf die ich damals angespielt habe, betrifft das heute immer noch beliebte MODERN ART und die Kartenspiele ATTTACKE und EN GARDE.
Titel: TUTANCHAMUN
Autor: Reiner Knizia
Grafik/Design: Franz Vohwinkel
Verlag: Amigo
Alter: ab 9 Jahren
Spielerzahl: 2 - 6
Spielzeit: 30 Minuten
Preis: ca. 35 DM
Die Rezension erschien 1993 unter www.spiel-und-autor.de
Wertung Spielreiz damals sehr freundliche 9 von 10 Sternen,
das entspricht: Jederzeit wieder
Spiel 1/1993 R 11/2020